II. Jugend im totalen Staat

Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln (...) und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.
Adolf Hitler
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1. Der Anspruch des totalen Staates

Der im ersten Kapitel geschilderten Aufbruchsstimmung in der katholischen Jugend trat mit der nationalsozialistischen Machtübernahme der Anspruch eines Regimes entgegen, dem es nicht nur um die Ausschaltung ungeliebter demokratischer Strukturen ging. Vielmehr stützte sich diese Parteiendiktatur "...selbst auf eine politische Massenbewegung" und versuchte "...das Herrschaftsmonopol (...) durch die Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Organisationen (...) zu sichern."34
Die Eigenart des totalitären Staates ist es, "...daß der totalitäre Herrschaftsanspruch sich nicht in den Grenzen möglicher staatlicher Zuständigkeit hält, sondern - wie es sich im Begriff ausdrückt - uneingeschränkt über das Ganze des menschlichen Lebens verfügen will."35
Diesen Anspruch der totalitären Herrschaft, "... sich die Personalität des Menschen und das Schicksal verfügbar zu machen ...", kann sie letztlich nie absolut verwirklichen. "Es liegt in ihrem Wesen, daß sie ihr Ziel niemals erreicht und total wird, sondern tendenziell, ein Herrschaftsanspruch bleiben muß." Es bleiben in der Realität "...immer totalitäre mit nicht-totalitären Zügen vermischt...".
Gerade dies macht das Leben und das Verhalten in dieser Situation für den Einzelnen aber nicht harmloser, weil "...die Auswirkungen (...) verschwimmend, unberechenbar und schwer nachweisbar sind ...".36
Für das Thema dieser Arbeit ist die Auswirkung auf die Erziehung und auf das Leben der Jugend von besonderer Bedeutung. "Jeder wesentliche Wirkungskreis mußte unter die Kontrolle des Staates gebracht werden, dessen grundlegende Inspiration die Weisung des Führers Adolf Hitler war...".37 Gerade dem Wirkungskreis "Erziehung" hat der Nationalsozialismus erhebliche Bedeutung zugemessen.

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2. Rolle und Anspruch der Hitlerjugend im totalitären Staat

a. HJ als Parteigliederung vor 1933

Der erste Ansatz, 1920 eine NS-Jugendorganisation aufzubauen, scheiterte mit dem Verbot der NSDAP im Jahre 1923.38 Erst mit der Anerkennung der von Kurt Gruber im Vogtland gesammelten "Großdeutsche Jugendbewegung" als offizieller Jugendorganisation der neugegründeten NSDAP auf dem Reichsparteitag 1926 in Weimar wurde die Jugendarbeit der Partei wieder aufgenommen.
Die in "Hiter-Jugend, Bund deutscher Arbeiterjugend (HJ)" umbenannte Organisation wurde der SA unterstellt, von der sie sich schon wegen der braunen Hemden zunächst auch äußerlich kaum unterschied. In den folgenen Jahren unterstrichen verschiedene Richtlinien die Zuordnug der HJ zur SA.39
Unter Baldur von Schirach, der die Führung der NS-Jugend am 30. Oktober 1931 übernahm, wurde der Ausbau der Hitler-Jugend als Einsatztruppe der NSDAP vorangetrieben.40 Den Höhepunkt der Auftritte der HJ bildete dabei unbestritten der "Reichsjugendtag der HJ", bei dem am 1. und 2. Oktober 1932 in Potsdam sieben Stunden lang Jugendliche an Hitler vorbeimarschierten. Trotz dieser hohen Teilnehmerzahl von "70 000 Hitler-Jungen und Hitler-Mädel" ist es der HJ aber nicht gelungen "Einfluß auf die deutsche Jugend zu gewinnen"41.
Arno Klönne faßt die Rolle der HJ vor 1933 folgendermaßen zusammen: "... das Schwergewicht der HJ-Arbeit in dieser Phase lag in der Demonstrations- und Agitationstätigkeit. (...) von eigentlicher Jugendarbeit konnte bei der HJ in diesen Jahren noch kaum die Rede sein ...".42 Den Anspruch, erziehend im herkömmlichen Sinne zu wirken, stellte die HJ auch überhaupt nicht. Sie war eine kämpferische, politische Jugendorganisation und gestand dies auch ein. Doch auch in politischem Sinne war sie letzlich belanglos und hatte zudem Probleme in Führung und Organisation.43

b. Anspruch auf die Jugend ab 1933

Mit der "Machtübernahme" durch die Nationalsozialisten änderte sich die Situation und die Rolle der Hitler-Jugend grundlegend. Sie war bisher ein sehr kleiner Teil im Spektrum der organisierten Jugend44 Nun ließ die Staatsführung keinen Zweifel daran, daß sie das Monopol im Bereich der Jugenderziehung für die Hitlerjugend beanspruchen würde. "Wie die NSDAP nunmehr die einzige Partei ist, so muß die HJ die einzige Jugendorganisation sein."45

Der "Anspruch auf die ganze Jugend" war dabei in doppeltem Sinne gemeint: Zum einen natürlich die möglichst vollständige Erfassung der Jugend in den Gliederungen der Parteijugend. Ein Fortbestehen nicht nationalsozialistischer Gruppen war in diesem Denken natürlich nicht vorgesehen.
Der Anspruch eines totalitären Staates bestand jedoch nicht nur darin konkurrierende Gliederungen, sei es eine Partei oder eine Jugendorganisation, auszuschalten. Dieser Staat will, wie oben dargestellt, uneingeschränkt über das Ganze des menschlichen Lebens verfügen.
Für die HJ bedeutete dies das Bestreben, ihre Kontrolle auf möglichst viele Lebensbereich der Jugend zu auszuweiten.46

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3. Die Durchsetzung des Monopolanspruchs der Staatsjugend

a. Ausschaltung konkurrierender Gruppen

Dem ersten Anspruch stand jegliches Bestehen anderer Jugendorganisationen außerhalb der HJ entgegen. Selbst die Jugendbünde, die dem neuen Staat politische Zustimmung entgegen brachten, waren nicht zur Aufgabe ihres eigenständigen Gruppenlebens bereit. Um den Anspruch des Nationalsozialismus auf die Jugend durchzusetzen, mußte deshalb mit staatlicher aber auch mit staatlich nicht legitimierter Gewalt gegen die Konkurrenz vorgegangen werden.
Nach der gewaltsamen Übernahme des "Reichsausschuß deutscher Jugendverbände" durch die Führung der Hitler-Jugend wurden zunächst die sozialistischen und die jüdischen Jugendorganisationen ausgeschlossen. Das Problem der politischen Jugendorganisationen erledigte sich mit dem Verbot der entsprechenden Parteien von selbst.
So bestanden als Organisationen, die dem Anspruch der HJ entgegenstanden, nur noch die konfessionellen und bündischen47 Jugendverbände.

Mit der Berufung des Reichsjugendführers der NSDAP zum "Jugendführer des Deutschen Reiches" wurde Baldur von Schirach auch Verantwortlicher für die deutsche Jugend außerhalb der HJ. "Damit war die gesamte Jugendarbeit in Deutschland potentiell unter die Kontrolle und Lenkung der HJ-Führung gebracht."48 Schon am darauffolgenden Tag wurde mit der gewaltsamen Auflösung des "Großdeutschen Bundes"49 die legale Arbeit der freien Jugendbewegungen beendet.
Die evangelischen Jugendverbände wurden gegen nur geringen Widerstand in die Strukturen der HJ eingegliedert und schränkten ihre Betätigung nach und nach ein.50 Das selbe Schicksal war von Seiten der Reichsjugendführung auch für die katholische Jugend vorgesehen, auch wenn die Verwirklichung durch die Verhandlungen und das Ergebnis des Reichskonkordats zunächst nicht ohne Schaden möglich war.51
Als letzte legale Alternative zur HJ war die katholische Jugend besonders dem staatlichen Druck ausgesetzt. War eine Auflösung auf Grund des Konkordatsschutzes nicht möglich, so wurde die Tätigkeit durch staatliche Maßnahmen und staatlich gedeckte illegale Aktionen der HJ erheblich eingeschränkt.52

b. Erfassung möglichst vieler Lebensbereiche der Jugend

Auch der Anspruch, möglichst viele Lebensbereiche der Jugend zu erfassen, wurde nach und nach verwirklicht. Neben den eigentlichen Aufgaben eines Jugendverbandes wurden der Hitler-Jugend Mitspracherecht in Jugendfürsorge, Jugendgerichtsbarkeit und Jugendpresse zugewiesen, die sozialpolitische Jugendarbeit und der Jugendsport völlig in die HJ eingegliedert. Außerdem wurden auf verschiedenste Art "...persönliche und berufliche Interessen von Jugendlichen mit der Einpassung in das System der HJ gekoppelt."53

c. Das Gesetz über die Hitlerjugend

Rechtlich verankert wurde die Monopolstellung der HJ schließlich durch das "Gesetz über die Hitlerjugend" vom 1.Dezember 1936. Darin wurde die gesamte "körperliche, geistige und sittliche Erziehung der Jugend außerhalb von Schule und Elternhaus" der HJ übertragen.
"Was staatlicherseits mit Einschränkungen für das öffentliche Auftreten begann, endete mit dem »Gesetz über die Hitler-Jugend« vom 1. Dezember 1936, das den totalen Anspruch einer Parteiorganisation auf die ganze deutsche Jugend endgültig legalisierte"54:

Gesetz über die Hitlerjugend55

§1 Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitler-Jugend zusammengefaßt.

§2 Die gesamte deutsche Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der Hitler-Jugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen.

§3 Die Aufgabe der Erziehung der gesamten deutschen Jugend in der Hitler-Jugend wird dem Reichsjugendführer der NSDAP übertragen. Er ist damit »Jugendführer des Deutschen Reiches«. (...)

Berlin, den 1. Dezember 1936


Es waren jedoch auch zu diesem Zeitpunkt erst 60% der Jugend erfaßt und der Schein der Freiwilligkeit nach außen hin noch nicht aufgegeben.56
Ab dem Jahr 1936 war auch die innere Strukturierung der HJ abgeschlossen. "...wesentliches Strukturprinzip war (...) der strenge jahrgangsmäßige Aufbau...".57 Sämtliche Kompetenzen und Befehlsbereiche waren bis zu den Dienstwegen "... nach militärischem Vorbild geregelt."58

d. Jugenddienstpflicht

Nach und nach wurde die vormilitärische Ertüchtigung im Programm der HJ verstärkt, und außerdem Sondereinheiten59 geschaffen, die die vormilitärische Ausbildung der Jugendlichen gemäß ihren Interessen erweiterten. Mit dem "Streifendienst" wurde die Hitlerjugend zur Kontrolle der Freizeit - und besonders des Wanderns - der Jugend eingesetzt, und bekam damit gewissermaßen polizeiliche Aufgaben übertragen. Als Schlußpunkt dieser Entwicklung zur totalen Jugenderfassung wurde noch vor Kriegsbeginn eine Jugenddienstpflicht eingeführt.

Jugenddienstverordnung60

§1 Dauer der Dienstpflicht (...)

(2) Alle Jugendlichen vom 10. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr sind verpflichtet, in der Hitler-Jugend Dienst zu tun, (...).

§9 Anmeldung und Aufnahme

(1) Alle Jugendlichen sind bis zum 15. März des Kalenderjahres, in dem sie das 10. Lebensjahr vollenden, bei dem zuständigen HJ-Führer zur Aufnahme in die Hitler-Jugend anzumelden.
(2) Zu der Anmeldung ist der gesetzliche Vertreter des Jugendlichen verpflichtet.

§12 Strafbestimmungen

(1) Ein gesetzlicher Vertreter wird mit Geldstrafe bis zu 150 Reichsmark oder mit Haft bestraft, wenn er den Bestimmungen des §9 dieser Verordnung vorsätzlich zuwiderhandelt.
(2) Mit Gefängnis und Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen wird bestraft, wer böswillig einen Jugendlichen vom Dienst in der Hitlerjugend abhält oder abzuhalten versucht.

Berlin, den 25. März 1939


Damit wurde die ganze Jugend vom 10. bis zum 18. Lebensjahr zum Dienst in den HJ-Einheiten verpflichtet. Die Verletzung der Dienstpflicht konnte rechtlich geahndet werden.
Die Staatsjugend wurde dadurch zu einer militärisch strukturierten Organisation mit "Jugendarrest", "Dienstweg", "Dienstkontrollbüchern", "Dienstvorschrift" bis hin zu "Bekleidungsvorschrift" und "Lagerverpflegungsordnung".61 Damit war rechtlich die komplette Erfassung der Jugend gesichert.
Aufgrund dieser Strukturen war die HJ nun gerüstet für weitere Funktionen, die ihr in Folge des Krieges nach und nach zugewiesen wurden.62 Mit der "Kinderlandverschickung", bei der die Schüler aus luftkriegsgefährdeten Gebieten evakuiert wurden bekam die HJ mit der Betreuung dieser Kinder eine ihrer bedeutensten Aufgaben zugewiesen. Außerdem hatte sie damit die Möglichkeit, ungestört von den Eltern, die Kinder in ihrem Sinne zu erziehen.63
Schrecklicher Höhepunkt und Schlußpunkt der HJ-Dienstpflicht war der Kriegseinsatz Jugendlicher in einem schon verlorenen Krieg.64

e. Fazit: HJ als totale Institution

Eine damalige Mitarbeiterin in der Reichsjugendführung schreibt im Rückblick über die Hitlerjugend: "... sie wurde mehr und mehr »Staatsjugend«, d.h. sie institutionalisierte sich mehr und mehr und wurde schließlich ein Instrument, mit dessen Hilfe die nationalsozialistische Staatsführung ihre weltanschauliche Ausrichtung der Jugend und den Kriegseinsatz bestimmter Jahrgänge dirigierte."65
Äußerlich hatte die Hitlerjugend den Anspruch der Jugendbewegung, daß "Jugend von Jugend geführt" wird übernommen, und in einem von der Jugendbewegung nie erreichten Ausmaße verwirklicht. Dem Anspruch des totalitären Staates gemäß, handelte es sich bei dieser Führungsverantwortung in der HJ jedoch um "vom Staat geliehene Machtentfaltung" und wurde so zu einem "institutionalisierten Mittel staatlicher Herrschaft".66
Dementsprechend war auch die ganze "Erziehung" im Nationalsozialismus nicht darauf gerichtet die Jugend in ihrer Selbstverantwortung zu stärken, sondern vielmehr darauf sie in ein System der Anpassung einzubinden.67 So bewirkte letztlich die Erziehung der HJ - analog zur gesamten Gesellschaft - nicht "die Herausbildung einer breiten Schicht von fanatisch-aktiven jungen Nationalsozialisten" sondern zumeist eine "Dressur der Jugendlichen zur Systemanpassung, zum Verzicht auf politische und gesellschaftliche Willensbildung und Spontanität" und damit eine "ethische Neutralisierung der Jugend".68
Das Ziel der nationalsozialistischen Erfassung der Jugend beschrieb Adolf Hitler selbst folgendermaßen:

Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn in unsere Organisationen hineinkommen und dort zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder die SS, in das NSKK und so weiter.(...), dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben. [Fettdruck nicht im Orginal] 69

All das macht deutlich: Die HJ war mehr als eine Pfadfinderbewegung unter der Aufsicht des Staates. Sie war das Instrument, den totalitären Erfassungsanspruch der Partei und des Staates auch im Bereich der Jugend durchzusetzen. Sie stellte mit ihrem straff organisierten Aufbau, mit dem strengen Führerprinzip und letztlich mit der Einführung der Jugenddienstpflicht eine "... Entsprechung und Ergänzung zur Arbeits- und Wehrdienstpflicht dar"70. Die Durchsetzung dieses Anspruchs konnte zwar nur nach und nach verwirklicht werden, es kann nach Klönne aber nicht bezweifelt werden, "..., daß der Endzustand einer »Jugenddienstpflicht« schon in den Maßnahmen der HJ-Führung ab 1933 angelegt war."71

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4. Brüche in der NS-Sozialisation

a. Realität im Gruppenbetrieb

Der Durchsetzung dieses Anspruchs, die ganze deutsche Jugend zu erfassen, waren trotz aller angewandter Machtmittel Grenzen gesetzt. Im allgemeinen kann angenommen werden, "... daß in weiten Teilen des Landes die nahezu restlose Organisation der Jugendlichen ein Erfolg war, der lediglich auf dem Papier stand..."72. Der Grund dafür bestand zunächst einfach darin, daß die HJ nicht genügend fähige Führer aufbringen konnte, um diese Massen von Mitgliedern zu beschäftigen.

"Es ist ausgeschlossen, daß die Führer des JV sich durchsetzen, von der HJ überhaupt zu schweigen. Die HJ besteht nur noch dem Namen nach, da ein gleichaltriger HJ-Führer mit diesen in den besten Lümmeljahren stehenden Kameraden nur in ganz seltenen Jahren sich durchsetzen kann."73

Die Schüler aus weiterführenden Schulen, die schon in der Zeit der Jugendbewegung das größte Potential der Gruppenleiter stellten, wanderten in die attraktiveren Spezialeinheiten der HJ, wie Flieger- oder Motor-HJ, ab, wo sie dem militärischen Drill entgehen konnten. Am ehesten waren sie noch bereit, Führungspositionen im JV zu übernehmen. Gruppenleiter für die Alterstufe der HJ zu finden, erwies sich als großes Problem. Dies führte dazu, daß "... die Untergliederung der 14- bis 18jährigen Jungen, die HJ im engeren Sinne, das schwächste Glied im System der NS-Jugendorganisation darstellte, obwohl dem politisch-erzieherischen Anspruch der HJ nach gerade diese Untergliederung den Kern des »jungen Nationalsozialismus« ausmachen sollte."74

b. HJ und andere Erziehungsinstitutionen

Auch das Gesetz über die Hitlerjugend 1936 brachte die HJ nicht in die Stellung, alleinige Erziehungsinstitution des Dritten Reiches zu sein. Nach der Volksideologie konnte zwar, "...ein Gegensatz zwischen Elternhaus, Schule und HJ theoretisch nicht aufkommen (...), da alle drei Institutionen lediglich Funktionsträger des (...) »völkischen Erziehungsauftrags« waren..."75, in Wirklichkeit waren jedoch Gegensätzlichkeiten sicher nicht ausgeschlossen.
So verstanden zum Beispiel die Nationalsozialisten die Zuordnung von Volk und Eltern folgendermaßen: "... Nicht ein eigenes, ursprüngliches und grundsätzliches Recht der Eltern (...) anerkennt der völkische Staat, vielmehr überläßt er als höchste Gewalt (...) der Familie den völkischen Nachwuchs zu treuen Händen."76
Es ist jedoch einsichtig, daß die Erziehung durch das Elternhaus letztlich das Erziehungsmonopol in Frage stellen mußte, selbst wenn die HJ zwischen 1933 und 1936 "...recht intensiv bemüht [war], sich der Loyalität zu versichern..."77.

Erst die "Kinderlandverschickung" während dem Krieg bot dem Staat die Chance einer "... nun wirklichen totalen Jugenderziehung durch institutionelle Verschränkung von HJ-Dienst und Schule..."78.
Aber selbst auf die Institution Schule konnte und wollte sich der Nationalsozialismus nicht voll verlassen. Sogar überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus unter der Lehrerschaft konnten in Bezug auf die Ziele der Erziehung anderer Auffassung sein als die Reichsjugendführung. "Formaler Unterricht, der Erwerb wissenschaftlichen und objektiven Wissens, die Kultivierung des Geistes...", also Grundpfeiler schulischer Erziehung, "... wurden alle auf eine niedrige Position auf der nationalsozialistischen Skala erzieherischer Prioritäten verwiesen."79 Auch wenn "...weltanschauliche Gegensätze zwischen der HJ und der Lehrerschaft..." auf Einzelfälle beschränkt blieben, wie Arno Klönne annimmt, so dürfte trotzdem feststehen, "...daß ein beträchtlicher Teil der Lehrerschaft der HJ-Arbeit skeptisch oder vorsichtig ablehnend gegenüberstand"80.
Verstärkt wurde diese Skepsis durch Ansprüche der HJ auf Sonderbehandlung ihrer Mitglieder. "Das ganze System von Prüfungen und Versetzungen der Schüler wurde durch ungesetzliches Eingreifen von seiten des HJ-Personals hoffnungslos durcheinandergebracht."81 Darüberhinaus verschlechterten die öffentlichen Angriffe des Reichsjugendführers gegen die Lehrerschaft ihr Verhältnis zur HJ. Dies führte dazu, daß die Lehrer ihre Mitarbeit in der Staatsjugend teilweise einstellten. Eine Ortsgruppe der NSDAP in Franken beklagte dies in einem Monatsbericht:

"... die Lehrer haben ihre bisherige Mitarbeit fast völlig eingestellt. Sie gehen sogar dazu über, den Schülern an den Jugendtagen Hausaufgaben zu geben , so daß die Jungen dem Dienst fernbleiben. Ein Hauptgrund, warum die Lehrer nicht mehr mitarbeiten, ist der, daß der Reichsjugendführer sowohl in Reden als auch in der Presse fortwährend die Lehrer angreift. Die Gründe der Lehrer sind verständlich und ich bitte, im Interesse der Jugend mit größtem Nachdruck dahin zu wirken, daß diese Angriffe eingestellt werden."82

c. Jugendverweigerung und Opposition

Über die ganzen Bereiche von Uneinigkeit der NS-Gliederungen hinaus war auch in der Jugend selbst ein beträchtliches Maß an Widerstand gegen die totale Gleichschaltung im Sinne der HJ zu finden. Arno Klönne hat die Verschiedenartigkeit der jugendlichen Opposition untersucht und ausführlich dargestellt.83
Die Gefahr der oppositionellen Gruppen und Millieus innerhalb der Jugend lag zwar nicht "...dem Hauptgewicht nach (...) in den Fällen unmittelbaren Widerstands...". Die "abweichende Sozialisation" in geschlossenen Gruppen stellte jedoch "...den Erziehungsauftrag der HJ in Frage"84.
Einen dieser Bereiche abweichender Sozialisation bildete dabei unzweifelhaft die katholische Jugend, in der "...eine erfolgreiche »Gegenkultur« zur NS-Erziehung existierte, die weltanschaulichen und institutionellen Rückhalt hatte."85

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Fußnoten mit Links zu den Literaturangaben

33 zit. nach: Böseler: Dortmunder Prozeß, S. 54
34 Löwenthal: Totaler Staat, S. 619
35 Buchheim: Herrschaft, S. 14
36 Buchheim: Herrschaft, S. 43
37 Stachura: Jugenderziehung, S. 224
38 Brandenburg: HJ, S. 22-24
39 vgl. Dokumente 7, 10, 12 und 13, bei Brandenburg: HJ, S. 244 ff
40 "Die Haupttätigkeit der HJ bestand in diesen letzten Jahren der Weimarer Republik in Kundgebungen und Aufmärschen, in Klebeeinsätzen für Parteiaufrufe und Wahlplakate, (...) im Saalschutz für Parteiversammlungen und in der Teilnahme an Demonstationen." Brandenburg: HJ, S. 118
41 Brandenburg: HJ, S. 124
42 Klönne: Jugend, S. 18
43 Stachura: Jugenderziehung, S. 228
44 mit 50 000 war die Mitgliederzahl gerade 1% im Vergleich zu den im "Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände" vertretenen Jugendlichen. Brandenburg: HJ, S. 132.
45 Schirach: Hitler-Jugend, S. 69
46 "Die HJ will sowohl die Gesamtheit der Jugend, wie auch den gesamten Lebensbereich des jungen Deutschen erfassen". Schirach: Hitler-Jugend, S. 69
47 Auf eine Differenzierung zwischen bündischen und freien Jugendverbänden wird hier und im folgenden verzichtet.
48 Klönne: Jugend, S. 21
49 Zusammenschluß der Bündischen Jugend
50 Zur Ausschaltung der Jugendverbände siehe ausführlich: Brandenburg: HJ, S. 145-160; vgl. Klönne: Jugend, S. 19-28
51 Schirach meinte am 5.11.1934 in Berlin bei Verhandlungen um die Auslegung von Art.31: "... Ich vermag nicht einzusehen, warum es neben der Hitlerjugend noch konfessionelle Sonderbünde geben soll. Wir können von dem Prinzip nicht abgehen, daß alle Jugend uns gehört...". Zit. nach: Stasiewski: Lage der Kirche II, Nr. 181/III., S. 39
52 siehe dazu ausführlicher Kapitel III dieser Arbeit
53 Klönne: Jugendprotest, S. 535. Vgl. Kapitel III 3.b-d
54 Schellenberger: Katholische Jugend, S. 176f
55 zit. nach: Brandenburg: HJ, S. 180
56 "... ich war fest davon überzeugt, daß die restlichen 40% freiwillig kommen würden". Schirach: Ich glaubte, S. 232
57 Klönne: Jugend, S. 44
58 Klönne: Jugend, S. 45
59 Flieger-, Marine-, Nachrichten-, und Motor-HJ. vgl. Klönne: Jugendprotest, S. 536
60 Auszug aus: Zweite Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler-Jugend (Jugenddienstverordnung). Brandenburg: HJ, Dokument 48, S. 308
61 vgl. Klönne: Jugendprotest, S. 536
62 so Kurier- und Wachdienste, Einsatz bei der Wehrmacht, in Wirtschaftsbetrieben, bei Sammelaktionen und im Ernteeinsatz. vgl. Klönne: Jugend, S. 38
63 Dazu hieß es z.B.: "... Die Einrichtung der KLV-Lager bietet die Möglichkeit, Jugendliche in großem Rahmen und für längere Zeit total zu erziehen..." in : Das junge Deutschland, 1943, S. 103, zit. nach: Klönne: Hitlerjugend, S. 30
64 "Noch am 23. April 1945 stellte Reichsjugendführer Axmann 600 15- und 16jährige Hitlerjungen bereit, die auf Befehl Hitlers die Pichelsdorfer Havelbrücke verteidigen sollten." Brandenburg: HJ, S. 233
65 Maschmann: Fazit, S. 151f
66 Klönne: Jugend, S. 125
67 "Die »politische Erziehung« der HJ stellte eine »Erziehung zum Staat« nicht im Sinne einer Aktivierung zu politischem Denken und Tun dar, sondern - im Durchschnitt gesehen - im Sinne der Disziplin und bloß funktionalen Aktivität im Rahmen der jeweils vorgelegten Richtlinien." Klönne: Jugend, S. 124
68 vgl. Klönne: Jugend, S. 124
69 zit. nach: Böseler: Prozess, S. 54
70 Klönne: Jugend, S. 42
71 Klönne: Jugend, S. 38
72 Klönne: Jugendprotest, S. 546
73 Monatsbericht. Zit. nach: Klönne: Jugendprotest, S. 547
74 Klönne: Jugendprotest, S. 546
75 Klönne: Jugend, S. 51
76 Hans-Helmut Dietze: Die Rechtsgestalt der Hitlerjugend, Berlin 1939, S. 199. Zit. nach: Klönne: Jugend, S. 51
77 Klönne: Jugend, S. 54
78 Klönne: Jugend. S. 54
79 Stachura: Jugenderziehung, S. 227
80 Klönne: Jugend, S. 53
81 Stachura: Jugenderziehung, S. 241
82 Monatsbericht. Zit. nach: Klönne: Jugendprotest, S. 547
83 Klönne: Jugend, S. 143 - 282
84 Klönne: Jugendliche Opposition, S. 204
85 Klönne: Jugendliche Opposition, S. 198

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